Johann Holtrop, der Titelheld in Rainald Goetz‘ Roman, sitzt in einem Hotel in Hongkong und liest mit Wohlbehagen das Portrait, das in einer Wochenzeitung über ihn erschienen ist. Der Zukunftsfreak– so ist es überschrieben. Dieser Zukunftsfreak ist CEO eines Medienunternehmens und Goetz erzählt vom Absturz seiner Karriere. Dieser Zukunftsfreak ist auch eine Figur des Nächsten – und zwar weit weniger als Karikatur oder Hassfigur als das ein flüchtiger Blick wahrnehmen könnte.

Zunächst, also in dem Moment, als er die Überschrift des Artikels liest, ist Holtrop selbst etwas wichtig, so Goetz, das dieses Zeitungsportrait gar nicht berücksichtigt. Rastlos, heißt es, sei er, Holtrop, immer unterwegs, mehr in den USA, als in Deutschland. Dabei ist China, denkt Holtrop, längst wichtiger:

“Hier hatte man schon den ganzen Tag gearbeitet, wenn in Deutschland die Leute gerade erst ihre Computer anmachten, das war ein täglicher Vorsprung, näher an der Zukunft ging hier die Sonne abends unter, hinter den neuesten Hochhäusern auf der anderen Seite des Hafens im Dunst.”

Der Vorsprung im Jetzt ist wichtig, gleich wofür. “Näher an der Zukunft”, das heißt für jemanden wie Holtrop: nicht mehr hier, nicht mehr jetzt, nicht länger das, was man schon kennt. Das heißt Vergessen, Weitermachen, aber ganz anders, erster sein, wo auch immer. Bilanzen interessieren ihn nicht, denn das wäre schon wieder eine vorweggenommene Rückwärtsgewandheit, die es gerade zu vermeiden gilt. Um Bilanzen zu lesen oder gar zu schreiben, ist die Zeit viel zu schade. Dafür gibt es immer andere, die so etwas machen können. Den Zukunftsfreak halten Bilanzen nur auf.

Unrast: das hört sich nach Nervosität, Verheerung und Erschöpfung an – und nach einer anderen Welt, wie sie etwa in der auch schon seit geraumer Zeit geführten Diskussion um Entschleunigung, Slowfood, Slowretail etc. vorgestellt wird. Vor zehn Jahren hat Ernst-Wilhelm Händler seinem Roman Wenn wir sterben als Motto ein Zitat des Wirtschaftstheoretikers Joseph Schumpeter vorangestellt:

“Capitalism inevitably and by virtue of the very logic of its civilization creates, educates and subsidizes a vested interest in social unrest.”

In mancher Hinsicht, hat Händler, selbst lange mittelständischer Unternehmer, den Roman, den Goetz jetzt geschrieben hat, schon vorformuliert – so weit, dass er für Wenn wir sterben mit einem Verfahren stilistischer Mimikry neben anderen Schreibweisen auch einen für Goetz typischen Stil eingesetzt hat.

Unrast

Das Interesse an sozialer Unrast, wie Schumpeter es formuliert, produziert Mangel. Und der ökonomische Mensch, der diese Produktion steuert, kennt keine Grenzen mehr. In der Figur des Johann Holtrop wird der Homo Oeconomicus zur Imago des Nächsten. Seine Wirklichkeit ist immer nur vorläufig, ihre Instabilität eigentlich sogar Bedingung zum Überleben.

Diese Bewegung auf das Nächste hin kennt kein Ende, die Erschöpfung ist unendlich. Es geht nicht mehr um Kontinuität, um ein rechtes Maß oder ein Gleichgewicht. Es geht um ein unstillbares Verlangen nach Austausch, in dem verzehrt wird, was ihn gerade erst hervorbringt. Und wo Ernst-Wilhelm Händler noch an der Geneaologie des ökonomischen Subjekts interessiert war, richtet Rainald Goetz seinen Blick auf die Gegenwart und auf das, was jetzt, was als Nächstes passiert.

“Dies ist ein historischer Roman”, sagt Rainald Goetz zwar; dann aber auch: “Er spielt in der Unerkennbarkeitsferne der Jüngstvergangenheit.” Unerkennbar ist diese Zeit, weil die Distanz zu ihr fehlt und weil man – selbst wenn man mit dem Rücken zur Zukunft voranschreitet, den Blick zurück gewandt -, in diesem Buch gar nicht anders kann als weiterzumachen, als sich daran zu orientieren, was als Nächstes kommt. Kein Ausgleich, keine Relativierung, kein Gleichgewicht, sondern Orientierung am Nächsten. Die Klammer des Zeitzusammenhangs steht nicht mehr zur Verfügung.

Während Holtrop das Portrait über sich in der Zeitung liest, lässt ihn sich Rainald Goetz wundern, dass, was von ihm zitiert wird, “fertiger und besser” klingt “als das Gesagte sich beim Reden für ihn selbst angefühlt hatte.” Eine für diesen Roman typische Drehung, die dem Satz unmerklich einen doppelten Boden einzieht. Der Erzähler bleibt auf Distanz zum Zukunftsfreak. Er rückt nahe an ihn heran und probiert dann aus, was für Denkkaskaden ablaufen könnten, vermeidet aber als Erzähler jegliche Einfühlung. Immer, gleich, wenn auch nur ansatzweise die Gefahr bestehen könnte, dass jemand wie Holtrop oder irgendeine andere der zahlreichen Romanfiguren zum Identifikationsangebot mutiert, bricht Goetz die Perspektive.

Seine gestörte Selbstwahrnehmung begreift Holtrop als “Verwandlungseffekt”. Gestört erscheint diese Selbstwahrnehmung auch nur, weil sie unbedingt ist und radikal in einer endlosen Stafette aus Selbstbespiegelungen. Holtrop liest, was er im Interview für das Zeitungsportrait gesagt hat: “Was ist, ist, das langweilt mich!” Das kling hart, zugespitzt, radikal. Denunziert Goetz also die Figur des Nächsten als narzisstischen Defekt? Wenn bei Holtrop eigentlich Langeweile die Antriebsfeder für eine totale, ausschließlich der Zukunft zugewandte und alle Kontexte und Chronologien gänzlich ausschließende Freiheit sein soll, zeigt die Wendung vom Nächsten, wie sie der Soziologe Dirk Baecker geprägt hat, etwas ganz anderes. Die Perspektive des Nächsten interessiert sich nicht für das, was ist, für sein statisches So-Sein, sondern für Verknüpfungen und Relationen, für soziale Gefüge, für das Vorläufige und Instabile. Eine gewisse, wenn auch nur äußerst vage Ahnung davon empfängt auch Goetz’ Johann Holtrop.

Die Grammatik der vollkommenen Klarheit

Holtrops Dynamik, seine Innovationskraft setzt auf Beschleunigung, auf Eskalation. Den Mangel, von dem er lebt, muss er stets neu erschaffen. Das Programm heißt Erschöpfung. Das Gegenprogramm der Instabilität verzichtet auf diese autodestruktive Strategie, geht zwar auch von der permanenten Krise aus, in der Handlungen geschehen und Entscheidungen getroffen werden müssen. Doch die Vorläufigkeit dieser Agenda hat eine gänzlich andere Struktur als das Kalkül und das lineare Auf und Ab Holtrops.

Zu den non-linearen Erzählungen des Nächsten findet Holtrop keinen Zugang. Rainald Goetz führt die rekursive Komplexität der nächsten Verhältnisse, an denen Holtrop viel eher scheitert als an den Beharrungskräften und Intrigen der Vorläufer, auch in Sprache und Konstruktion seines Romans vor: Wer dieses Buch liest, erhält kein Bild geliefert von einer anderen, von einer Gegenwelt. Alles vor und hinter dem Jetzt bleibt unanschaulich.

Es geht für Goetz um Konsequenz und um Orientierung. „Die Grammatik der vollkommenen Klarheit“: so überschrieb einmal Ernst-Wilhelm Händler sein poetisches Programm und diese Überschrift kann auch für Johann Holtrop gelten. Holtrop, berauscht von seinem im Interview gesagten Satz vom Überdruß am bloßen Jetzt, fasst gleich den Plan, ein ganzes Buch zu machen, das diese Überdrussgeste zur Fanfare des Neuen und noch nie Dagewesenen formt. Selbst einen Roman stellt er sich vor, ganz so, als sei das noch eine Steigerung. Einen Roman zu schreiben, stellt für Holtrop die Verheißung auf Freiheit dar, auf ein Jenseits des entropischen Hier und Jetzt. Und natürlich kann dieser Roman nie realisiert werden. Holtrop hat nicht nur keine Vorstellungskraft dafür, sich selbst mit den Augen anderer betrachten zu können, die Form des Romans stellt für ihn auch nur einen weiteren Initiationsmoment dar in seiner Konstruktion der Welt als Überforderung.

“Holtrop startete zwar immer bis zu fünf Aktionen gleichzeitig, das entsprach seinem Selbstbild vom hyperaktiven Mensch und Macher, der immer maximal unter Strom steht und den Reichtum seiner inneren Vieldimensionalität kaum bändigen kann, aber in Wirklichkeit war er kein echter Multitasker, im Gegenteil. Holtrop war Hektiker, permanent von der der Vielzahl und Gleichzeitigkeit seiner Aktivitäten überfordert, überlastet, fahrig stolperte er der jeweils neuesten, letztgestarteten Aktivität, den Blick schon auf die übernächste gerichtet, hinterher, und die meisten angefangenen Dinge blieben einfach nicht zuende gebracht irgendwo um ihn herum liegen.”

Struktur, Gründlichkeit, langfristige Planung, Nachhaltigkeit: in solchen Kategorien denkt Holtrop nicht. Diese Werte stellt er der eigenen Überdrehtheit entgegen. In diesem Szenario steht das Alte gegen das Neue, das Fertige gegen das Unfertige, Tradition gegen Zukunft, analog gegen digital, die Tradition und die Gegenwart gegen das Nächste und Übernächste. Rainald Goetz’ Roman jedoch zeigt mehr als nur ein derart vorhersehbares Scheitern des Managers Johann Holtrop. Mit seinem, wie Goetz sagt, “spekulativen Realismus” zeigt der Roman, dass diese Alternativen wieder nur bequeme Vereinfachungen deutlich komplexerer Mechanismen sind, deren Dynamik alle übrigen Akteure auch nur zu Lügnern und Hochstaplern macht, die ihre Selbstverachtung kultivieren, statt das Nächste als Chaos, als offene, zu gestaltende Form, also als Möglichkeit zu begreifen.

Das gilt für die Kollegen und Konkurrenten im eigenen Vorstand ebenso wie für den Stab an Leuten, die Holtrop zuarbeiten, die seine wirren Initiativen sortieren, ausführen und abschließen sollen. Er erzeugt ein Außenbild, um nicht ein anderes, authentischeres wahrnehmen zu müssen, passt sich dann diesem hektischen Außenbild an und sieht sich als “Anreger, Kreativkraftwerk, Genie der unkonventionellen Impulse.”

Das Nächste, die Zukunft: das sind für Holtrop nicht Konstitutionen, Aggregatzustände, sondern etwas, das nur euphorisiert zu haben ist. Das Nächste ist für diesen Typus, wie Rainald Goetz ihn vorstellt, immer nur die nächste Euphorie. Und dieses kurze Glück wird getaktet vom Rhythmus der Abschwünge und Abstürze. Dichte und Spitzen der Ausschläge auf dieser Kurve kennen als ultimative Superlative und zugleich Exitstrategie schließlich nur den Tod. Das ist sicherer als jeder Roman.